Der Regierungswechsel in Hessen ist in letzter Minute geplatzt. Die für morgen angesetzte Wahl von Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin findet nicht statt. Vier SPD-Abgeordnete - Jürgen Walter, Carmen Evertz, Silke Tesch und Dagmar Metzger - kündigten heute morgen in einer überraschend in einer Pressekonferenz an, dass sie Andrea Ypsilanti nicht zur Ministerpräsidentin wählen würden. Damit fehlen Ypsilanti drei Stimmen zur erforderlichen Mehrheit, die Wahl wurde abgesagt. Auch der zweite Anlauf, eine rot-grüne Minderheitsregierung mit Duldung der Linken zu bilden, ist somit gescheitert. Der geschäftsführende Ministerpräsident Koch bleibt weiter im Amt.
Der Coup der Abweichler kam nicht nur für die Parteispitze der SPD überraschend. Nur Dagmar Metzger hatte schon im Frühjahr erklärt, dass sie eine auf die Stimmen der Linkspartei angewiesene Regierung Ypsilanti nicht unterstützen werde. Jürgen Walter galt zwar als Wackelkandidat, nachdem er auf dem Parteitag am Wochenende den Koalitionsvertrag plötzlich abgelehnt hatte. Ypsilanti hatte sich aber auf seine Zusage verlassen, sie trotzdem zu wählen. Die beiden anderen Abgeordneten waren bis jetzt nicht durch öffentlichen Widerspruch aufgefallen und hatten den Koalitionsvertrag am Wochenende gebilligt. Carmen Evertz, Direktkandidatin aus dem Kreis Groß-Gerau, hatte in der vergangenen Woche auf einer Regionalkonferenz den Verdacht, sie werde nicht zustimmen, noch deutlich zurückgewiesen.
Evertz und Tesch erklärten der Presse, sie könnten eine Zusammenarbeit mit der Linken und den Wortbruch Ypsilantis hinsichtlich dieser Zusammenarbeit nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Durch den Druck des näher rückenden konkreten Wahltermins hätten sie sich erst jetzt zu dieser Entscheidung durchgerungen. Walter nannte eher inhaltliche Gründe für seine Ablehnung. Durch die rot-rot-grüne Regierungspolitik sehe er "Zehntausende Arbeitsplätze gefährdet". Metzger hatte bereits vor einem halben Jahr mit ihrer Ablehnung den ersten Versuch des rot-rot-grünen Projektes gestoppt. Sie sah sich nun durch die drei weiteren Mitstreiter in ihrem Kurs bestätigt. Alle vier erklärten, sie wollten in der Fraktion bleiben und ihr Landtagsmandat nicht aufgeben, aber auch nicht Koch zum Ministerpräsidenten wählen.
Die vier Abtrünnigen gehören alle dem "rechten" (wirtschaftsfreundlichen) Flügel der SPD an und sind für den Flughafenausbau. Wahrscheinlicher als plötzliche Gewissenskonflikte angesichts der Linkspartei erscheint es, dass ihnen der mit den Grünen frisch ausgehandelte Koalitionsvertrag nicht zusagte - vor allem nicht die Passagen zum Flughafenausbau. Vor allem die Aussagen von Walter lassen darauf schließen.
Erste Reaktionen
Andrea Ypsilanti sagte am Nachmittag, sie sei "maßlos enttäuscht" über das Verhalten der vier Abgeordneten. Auch alle Bürger, die auf einen Politikwechsel gehofft hätten, müssten enttäuscht sein. Weitere Angaben über das zukünftige Vorgehen machte sie nicht.
Der Landesvorstand derhessischen SPD stellte sich hinter Ypsilanti und forderte Walter zum Rücktritt von seinem Posten als stellvertretendem SPD-Vorsitzenden auf. Auch die anderen aus dem Quartett dürften Probleme in der Partei bekommen. Der Vorsitzende des Parteibezirks Südhessen, Gernot Grumbach bezeichnete deren Verhalten als "Angriff auf die SPD". Auch aus anderen Parteibezirken gab es heftige Angriffe.
Das SPD-Präsidium reagierte mit "einer Mischung aus Betroffenheit und Empörung". Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering bezeichnete die Vorgänge in Hessen als "schweren Schlag" für die hessische SPD und kritisierte die Abweichler:" Die Verantwortung von Abgeordneten beginnt nicht erst dann, wenn sie in die Kabine gehen". Er äußerte aber auch keine explizite Unterstützung für Ypsilanti. In Hessen sei "ein Neuaufbau nötig". Aus den wirtschaftsnahen Kreisen der SPD gab es aber auch verhaltene Zustimmung für die Abweichler.
Die Grünen sind über die Entwicklung entsetzt. Fraktionschef Al-Wazir sagte, in dieser Legislaturperiode gebe es keine Chance mehr auf eine rot-grüne Landesregierung. Auch die Bundes-Grünen übten heftige Kritik. Parteivorsitzende Roth: "Es tut sich für uns ein Abgrund an Politikunfähigkeit auf". Die SPD hinterlasse einen Scherbenhaufen und verabschiede sich für lange Zeit aus der aktiven Politikgestaltung.
Die Linke sprach von einem "schwarzen Tag für Hessen". Sie sieht auch in der mangelnden Unterstützung durch die Bundes-SPD eine Ursache für das Scheitern von Ypsilanti. Die Chance auf einen Regierungs- und Politikwechsel in Hessen sei durch den rechten SPD-Flügel torpediert worden. Das sei schlimm für die Menschen in Hessen, weil damit die unsoziale Politik der Regierung Koch fortgesetzt werden könne.
CDU und FPD in Hessen übten sich - im Gegensatz zum Trommelfeuer an Presseerklärungen im Vorfeld - heute im Schweigen. Nur sehr zurückhaltend sprach man vom "großen Respekt für die vier SPD-Abgeordneten". Sie hätten "ein hohes Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft unseres Landes bewiesen". Bei den Bundesparteien gab es dagegen offene Schadenfreude.
Ministerpräsident Koch gab sich staatsmännisch. Er forderte eine rasche Lösung für eine stabile Mehrheit im Landtag. Wenn man nicht in "einer überschaubaren Zeit" eine Lösung gefunden habe, seien Neuwahlen unausweichlich.
Bei Fraport zeigte man sich inoffiziell erleichtert, dass jetzt dem Flughafenausbau kein politischer Widerstand mehr entgegenstehe. Offiziell wollte man sich aber nicht äußern. Die Börse freute sich: die Fraport-Aktie stieg zeitweise um bis zu 18 Prozent.
Wie es jetzt in Hessen weitergehen wird, ist noch unklar. Möglich wären eine große Koalition, eine Ampel-Koalition (SPD, FDP, Grüne) oder eine Jamaica-Koalition (CDU, FDP, Grüne). Alle diese Möglichkeiten sind zur Zeit sehr unwahrscheinlich, sodass es wahrscheinlich auf Neuwahlen hinauslaufen wird.
Für die Bäume im Kelsterbacher Wald sieht es dagegen schlecht aus. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, geht es ihnen im Frühjahr an den Kragen.