Das Urteil ist gesprochen. Nachtflüge in Heathrow bleiben erlaubt. Die von Nachtfluglärm geplagten Bürger, ob in London oder hier, haben allen Grund enttäuscht zu sein - dies ist eine schwere Niederlage, und eine nicht unbedingt erwartete dazu.
Im Berufungsverfahren „HATTON AND OTHERS v. THE UNITED KINGDOM“ hat die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit zwölf zu fünf Stimmen beschlossen, dass durch die Nachtflüge am Flughafen Heathrow die Menschenrechte der Flughafenanwohner nach §8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Privat- und Familienleben) nicht verletzt werden. Nur im zweiten Klagepunkt (§13, Möglichkeit wirksam Rechtsmittel einzulegen) erhielten die Anwohner Recht: es habe ihnen nicht die Möglichkeit zur Verfügung gestanden, gegen die Nachtflüge in ihrem Land wirksam den Rechtsweg zu beschreiten. Deswegen wurde den Klägern 50000 Euro Schadenersatz zugesprochen, mit dem zumindest ein Teil der bisherigen Verfahrenskosten gedeckt werden können.
Damit hob der Europäische Gerichtshof sein viel beachtetes Urteil vom 2. Oktober 2001 auf, in dem festgestellt wurde, dass die Nachtflüge die Menschenrechte der Anwohner verletzen. Die britische Regierung hatte gegen das Urteil Berufung eingelegt, mit dem Argument, ein Ende der Nachtflüge würde Heathrow und den britischen Fluggesellschaften schaden und sie gegenüber der europäischen Konkurrenz unfair benachteiligen. In der Urteilsbegründung des aktuellen Urteils heißt es, "Einschränkungen der Rechte auf Privatsphäre seien im Interesse des wirtschaftlichen Wohlergehens des Landes und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer zulässig". Die britische Regierung hätte sich bemüht, die Interessen der Anwohner gegen die wirtschaftlichen Interessen abzuwägen und deshalb nicht gegen §8 verstoßen.
Wegen des Erfolgs bei §13 kann man das Urteil mit viel Mühe als einen Teilerfolg für die Kläger werten, wie es einige Umweltinitiativen getan haben. Wegen der unterschiedlichen Rechtssysteme ist dieser Punkt aber nicht auf Deutschland übertragbar.
Doch der Kernpunkt ist der §8. Der hat zwei Abschnitte: den ersten, nach der jeder Bürger das Recht auf ein ungestörtes Privat- und Familienleben hat, wozu von den Richtern auch der der gesunde Nachtschlaf gerechnet wurde. Der zweite Abschnitt besagt, dass der Staat in dieses Recht eingreifen kann, um das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes zu sichern. Im Urteil von 2001 haben die Richter den Rechten der betroffenen Menschen Priorität eingeräumt. Im jetzigen Urteil, von anderen Richtern gesprochen, wurde dies revidiert, und die "üblichen" Prioritäten wurden wieder hergestellt.
Das ist ein Rückschritt - leider der Rückschritt zum Gewohnten. Die Richter haben die Chance nicht ergriffen, die Rechtsprechnung zur Berücksichtigung der Menschenrechte bei Umweltfragen weiter zu entwickeln. Wirtschaftlichen Überlegungen wird wieder (oder immer noch) Vorrang gegenüber dem Schutz der Gesundheit eingeräumt. So sehen es jedenfalls die fünf Richter, die ein Minderheitsvotum gegen das Urteil abgaben. Die Entscheidung werde der zunehmenenden Bedeutung, die Umweltfragen in Europa und der ganzen Welt beigemessen würde, nicht gerecht, kritisierten sie.
Genau so ist es. Auch wenn die Londoner Fluglärmgegner weiter kämpfen wollen: auf einige Zeit müssen die Nachtfluggegner in ganz Europa die Hoffnung begraben, mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs die nationalen Regierungen zur Umsetzung von Nachtflugbeschränkungen oder Nachtflugverboten zwingen zu können. Es ist zwar zutreffend, das sich das Urteil auf hiesige Verhältnisse nicht einfach übertragen lässt, aber es hatte eine große Signalwirkung. Vielleicht würde die Abwägung bei 150 Nachtflügen (gegenüber den 16 Nachtflügen in London) anders ausfallen. Vielleicht aber auch nicht. Niemand kann sagen, wie ein solches Verfahren hier ausgehen würde. Großer Opimismus ist zur Zeit eher nicht angebracht.
Notwendig wäre ein generelles Umdenken in Politik und Gesellschaft. Die Rechte der Menschen auf Schutz ihrer Gesundheit oder auch "nur" ihres Wohlergehens im Sinne der WHO-Definition von Gesundheit dürfen nicht länger auf den hinteren Plätzen landen, sobald irgend jemand damit droht, der Schutz könne ein paar Arbeitsplätze kosten und der Wirtschaft schaden. Umweltschutz darf nicht länger als "Standortnachteil" betrachtet werden, sondern sollte als Chance für eine nachhaltige, zukunftsfähige Entwicklung der Wirtschaft gesehen werden. Wenn sich das Klima in dieser Frage wandelt, werden dem auch die Richter Rechnung tragen.
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