Manchmal kommen unangenehme Überraschungen in Sachen Fluglärm nicht von Fraport & Co.
Wer sich nicht nur einfach darüber freute, dass sich unsere Lokalpolitiker und die Umweltverbände fleißig für ein besseres Fluglärmgesetz einsetzen und deshalb in Berlin eine Resolution an die Abgeordneten übergeben haben, sondern sich die Mühe machte, diese Resolution aufzutreiben und von vorn bis hinten zu lesen, konnte das ganz schnell erfahren - und zwar im Absatz 2, Thema: Fluglärmberechnung. Dort fehlt die Forderung nach der Anwendung der 100/100-Regel, die man als Fluglärmgegner und -Betroffener ganz selbstverständlich dort erwartet hätte. Die 100/100-Regel wird nur noch als gut und wünschenswert bezeichnet. Gleichzeitig wird aber signalisiert, dass man auch mit einer "Monatslärmkonzeption" als Kompromiss zufrieden wäre.
Das überrascht. Bis jetzt war die 100/100-Regel eine unverzichtbare Kernforderung aller Organisationen, die die Interessen von Fluglärm-Geschädigten vertreten. Und das ist auch gut so. Die 100/100-Regel ist unter den aktuell gebräuchlichen Berechnungsmethoden die einzige, die den Fluglärm für jede Betriebsrichtung des Flughafens genau so wiedergibt, wie er an den Tagen ist, an der die betreffende Betriebsrichtung auch genutzt wird. Im Gegensatz zu allen Varianten der sogenannten "Realverteilung", die den Fluglärm über fluglärmbelastete und ruhige Tage mittelt und so die Belastung zum Nachteil der Betroffenen klein rechnet. Weil die 100/100-Regel somit am besten geeignet ist, um Fluglärm nachvollziehbar darzustellen und Schutz-Kriterien sinnvoll umzusetzen, wurde sie nicht nur von den Lärmbetroffenen gefordert, sondern auch anderswo: z.B. in der Frankfurter "Mediation", oder vom Bayrischen Verwaltungsgerichtshof für den Flughafen München. Und so war die 100/100-Regel auch in allen älteren Entwürfen für ein neues Fluglärmgesetz vorgesehen. Erst in der letzten Version, die jetzt verabschiedet werden soll, schaffte es die Luftverkehrslobby, 100/100 durch die - für die betroffenen wesentlich ungünstigere - Sigma-Regelung zu ersetzen.
Doch nun haben sich offenbar fast alle offiziellen Repräsentanten der Fluglärm-Betroffenen still und leise von der konsequenten Forderung nach der 100/100-Regel verabschiedet und wollen mit einer Methode "lautester Monat" vorlieb nehmen. Nicht nur die Arbeitsgemeinschaft deutschen Fluglärmkommissionen (ADF), die Städte der Aktion Zukunft Rhein-Main, Lärmschutz- und Umweltverbände, sondern auch viele Bürgerinitiativen haben die Resolution so unterschrieben (oder zumindest nicht widersprochen).
Der Stichtag für den wundersamen Sinneswandel war offenbar ein Expertenworkshop "Reformoptionen für die Erfassung von Fluglärm in Deutschland", den der Raunheimer Bürgermeister Jühe als Vorsitzender der ADF gemeinsam mit dem Regionalen Dialogforum organisiert hat. Wie immer die Gehirnwäsche dort aussah, sie hat funktioniert. Jedenfalls forderten bis zum Workshop noch alle relevanten Organisationen die 100/100-Regel. Hinterher sprachen sie sich für den Kompromiss "Monatslärmregelung" aus. Allerdings nur ziemlich versteckt, in Stellungnahmen und Anträgen. Erst in der Resolution wurde die Meinungsänderung sichtbar - die Überraschung ist gelungen. Begründet oder gar mit den gewöhnlichen Mitgliedern und/oder Betroffenen diskutiert wurde nicht.
Die Gründe der Richtungsänderung bleiben daher unklar. Überzeugung durch neue Argumente? Wahrscheinlich nicht. Wirklich gute Argumente gegen die 100/100-Regel sind auch jetzt nicht aufgetaucht. Die Idee, gegen die Luftverkehrslobby auf verlorenem Posten zu stehen und der Versuch, wenigstens noch kleine Verbesserungen herauszuholen, um wenigstens die bei Ostwind am stärksten betroffenen Städte in die Schutzzone zu bringen? Schon eher. Falsche Strategie, taktisches Ungeschick? Mit Sicherheit. Denn wer fordert schon einen "gerade noch akzeptablen Kompromiss" in einem Papier mit hoher Öffentlichkeitswirkung? Doch nur jemand, der schon aufgegeben hat. Würde der Kompromiss tatsächlich beschlossen, würde der "gerade noch akzeptable Kompromiss" schnell zu einem guten Kompromiss, dem ja auch alle Betroffenen zugestimmt haben,. Die 100/100-Regel wäre dann nur noch Schnee von gestern.
Dies wäre für die Betroffenen alles andere als erfreulich. Über die alternative Methode "lautester Monat" sind bisher keine Details bekannt, und Lärmkarten, an denen man die Auswirkungen abschätzen könnte, gibt es bisher nicht. Nur eines ist klar - "lautester Monat" ist besser als die jetzt vorgesehene Sigma-Regelung, aber bei weitem nicht so gut wie die 100/100-Regel. Denn es wird hier immer noch gemittelt, statt über das halbe Jahr über den lautesten Monat. In Frankfurt dürften es auch im schlimmsten Fall kaum mehr als 50% Ostbetrieb sein. Es wird also immer noch die Hälfte de Lärms weggemittelt. Viele Betroffene würden so immer noch keinen Schallschutz erhalten, obwohl bei ihnen die Grenzwerte an Betriebstagen überschritten sind. Zum Schutz der Gesundheit ist "lautester Monat" daher ungeeignet, wie jede andere Regelung, die verlärmte Tage gegen ruhige Tage verrechnet. Und um Schutz der Gesundheit geht es im Fluglärmgesetz, nicht um irgendwelche gewöhnliche Belästigung. Dafür sind die Grenzwerte viel zu hoch, sie lassen keinen Spielraum.
Wenn im politischen Gerangel im Hinterzimmer der Lobby schließlich ein unzureichender Kompromiss herauskommt, den die Betroffenen ausbaden müssen, ist das schon ärgerlich genug. Dass aber Umweltverbände und andere Vertreter der Lärmbetroffenen, die gar nicht unter Verhandlungs- und Kompromisszwang stehen, freiwillig sinnvolle und wichtige Positionen zu Lasten der Betroffenen aufgeben, ist schlicht unakzeptabel und erschüttert das Vertrauen nachhaltig.
Statt dessen muss die 100/100-Regel offensiv vertreten und für die Öffentlichkeit besser erklärt werden. Wie das geht, konnte man im Erörterungstermin in Offenbach sehen. Der menschenfeindlichen Idee von Fraport und der von Fraport bezahlten Lärmwirkungsforscher, Fluglärm mache ja eigentlich nichts, wenn man sich nur ab und zu davon erholen könne, muss ebenso energisch entgegengetreten werden wie den Behauptungen, Regelungen wie 100/100 würden den Ruin der Luftverkehrsbranche bedeuten. Mit lächerlichen 1-2 Euro zusätzlich pro Flugticket wurden die Kosten des vorletzten Entwurf für ein Fluglärmgesetz abgeschätzt, mit 100/100-Regel und ohne "Lex Fraport". Das wird doch wohl noch drin sein. Es besteht kein Grund, hier vor der Luftverkehrslobby zurückzuweichen.
Diejenigen, die sich bei einer eventuellen Realisierung eines faulen Kompromisses dauerhaft außerhalb des Lärmschutzbereiches wiederfinden würden, dürften im wahrsten Sinne des Wortes ein böses Erwachen haben. Und dürften dann ziemlich wütend auf ihre Vertreter sein, die dem zugestimmt haben. Jede Regelung, die rechnerisch Lärm wegmittelt und damit Gefährdung von Schlaf und Gesundheit an fluglärmbelasteten Tagen zulässt, ist einfach nicht zu verantworten.
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